„Die Ideen und Möglichkeiten, die ich habe, hat vielleicht kein anderer, also werde ich jetzt aktiv.“

23. Mai 2023

Am Mittwoch, 26. April fand der zweite Online-Talk unserer Reihe „Engagiert für Vielfalt in Ostdeutschland“ statt. Diesmal ging es darum, wie Migrant*innen-(Selbst)Organisationen (MOs) im ländlichen Raum gestärkt werden können. Mit dabei waren zwei Gäste aus der Praxis, die von ihren Erfahrungen mit der Vereinsgründung berichteten, sowie zwei Vertreter*innen der Landesnetzwerke der MOs, die beschrieben, wie diese Engagierte unterstützen.

„Ich kann nicht warten, bis jemand anderes für meine Familie und mich Sicherheit schafft!“

Sara Tietze leitet das Projekt Zuzug, das letztes Jahr im ländlich geprägten Burgenlandkreis im Süden Sachsen-Anhalts den bislang einzigen interkulturell-migrantischen Verein, Bunte Stimmen e.V., gegründet hat. Die Idee dazu entstand, weil sie sich als Mutter von Kindern, die nicht „biodeutsch“ aussehen, durch rassistische Vorfälle bedroht fühlte. Auch lernte sie immer wieder andere Menschen kennen, denen es vor Ort genauso ging und die sich teilweise kaum aus dem Haus trauten. „Ich kann nicht warten, bis jemand anderes für meine Familie und mich Sicherheit schafft!“ – Das war ihre Motivation. „Die Ideen und Möglichkeiten, die ich habe, hat vielleicht kein anderer, also werde ich jetzt aktiv.“, dachte sich Sara.

Samer Haj Khamis ist 2015 als Geflüchteter aus Syrien nach Deutschland gekommen. 2019 hat er mit seinen Mitstreitern den Verein Für Euch Lakum e.V. in der Kleinstadt Wismar in Mecklenburg-Vorpommern gegründet, der Geflüchtete aus vielen Ländern unterstützt, z.B. mit Freizeitangeboten. Derzeit wirkt er bereits an einer zweiten Vereinsgründung mit. Der neue Verein soll in verschiedenen Städten in MV wirken und viele Kulturen und Nationalitäten umfassen.

„Es gab am Anfang viele Fragen, aber wir haben es Schritt für Schritt gemeistert“

Sara und ihre Kollegin Matilda Denja berichteten von der Situation im Burgenlandkreis: „Als wir angefangen haben, war nichts da, worauf wir aufbauen konnten. Wir mussten zunächst mal ein Netzwerk aufbauen. Im Unterschied zu den Städten, sind die meisten Migranten hier in der ersten Generation. Für viele ist es neu, sich in einem Verein zu engagieren. Es gab am Anfang viele Fragen, aber wir haben es Schritt für Schritt gemeistert.“

Samer Haj Khamis – Mitgründer des Vereins Für Euch Lakum e.V.

Als größte Herausforderung bei der Gründung seines ersten Vereins hat Samer die bürokratischen Hürden wahrgenommen – allen voran die Vereinssatzung. Es braucht rechtliche Expertise, um die Begrifflichkeiten korrekt zu verwenden – dazu kam die Sprachbarriere. Unterstützung erhielt er zum Glück vom Verein Fabro e.V., dem Förderverein des Migrantenrates (MIGRO) der Hansestadt Rostock, für den er mittlerweile auch selbst arbeitet. Dort gab man ihm den Tipp, mit einem kleinen Projekt zu starten. Dafür konnte er 150€ von der Stadt Wismar beantragen. Das zweite Projekt des Vereins, ein Kulturtreffpunkt in Wismar, wurde dann vom JUGENDSTIL*-Ideenfonds gefördert, bei dem migrantische Personen und Initiativen in Ostdeutschland bis zu 1000€ für ihre Ideen beantragen können.

Anders als Samer, für den die Projektanträge die ersten Herausforderungen, aber auch die ersten Erfolge waren, kannte Sara, zuerst die Möglichkeiten von Projektförderungen. Ihre Vision passte in den Rahmen des Förderprogramms „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Sie entwickelte daraus und aus dem akuten Bedarf, den sie wahrnahm, die Projekt- und Vereinsidee mit dem Ziel, eine Struktur für die Menschen mit Migrationsgeschichte im Landkreis aufzubauen, die bisher oft durch alle Raster fielen. Das Projekt ist beim Landkreis selbst angesiedelt, für den Sara arbeitet.

„Sag mir, was deine Idee ist und wir schauen, wie wir sie verwirklichen können.“

Sara Tietze – Leitern des Projekts Zuzug

Auf die Frage, was sie heute anders machen würde, weiß Sara: Gleich am Anfang den Fokus auf Einbindung und Empowerment migrantischer Menschen legen. Heute überlege sie gemeinsam mit Netzwerkpartnern, wer mögliche Community-Profis seien und spreche diese konkret an. Denn für Menschen, die frustriert seien in der Mehrheitsgesellschaft, biete der Verein eine gute Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen. Dieses Empowerment durch die Umsetzung eigener Ideen sei auch die Devise des Vereins: „Es ist essenziell, dass man als Verein nicht sagt: ,Ich sag dir, was du machen sollst‘, sondern ,Sag mir, was deine Idee ist und wir schauen, wie wir sie verwirklichen können.‘“ So entstehen im Verein kleine Mikroprojekte, die von den Mitgliedern selbst ausgedacht wurden und jetzt umgesetzt werden, etwa ein Sprachcafé, Kinderbetreuung oder eine Infoveranstaltung zum Thema Arbeitsrecht.

Samer möchte bei der Gründung seines zweiten Vereins aus den Erfahrungen vom ersten Mal lernen. Mit dem ersten Verein hätten sie nur arabische Menschen erreicht, andere hätten sich nicht angesprochen gefühlt. Das wollen sie dieses Mal in der Kommunikation anders machen, sodass Menschen aller Kulturen sich angesprochen fühlen.

Unterstützung bei der Vereinsgründung durch die Landesnetzwerke

Anschließend stellten Zofia Singewald (Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V.) und Elisa Calzolari (MigraNetz Thüringen e.V.) die Arbeit der Landesnetzwerke der Migrant*innen-Organisationen vor. Beide Dachverbände wirken als Ansprechpartner für migrantische Vereine und Initiativen in ihren jeweiligen Bundesländern.

LAMSA e.V. ist ein Netzwerk aus derzeit 110 Organisationen und Einzelpersonen unterschiedlicher Herkunft, kultureller Prägung sowie religiöser Zugehörigkeit in Sachsen-Anhalt. Es vertritt die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte auf Landesebene. Die Themenbreite, für die sich LAMSA e.V. einsetzt, zeigt sich in den Projekten, die umgesetzt
werden, wie bspw. INEMSA – Interkulturelles Netzwerk der Eltern mit Migrationsgeschichte in Sachsen-Anhalt, SiSA – Sprachmittlung in Sachsen-Anhalt sowie in DiV – Demokratie vor Ort, der Demokratieberatung für Mitglieder des LAMSA e.V.

MigraNetz Thüringen e.V. hat 52 Mitgliedsorganisationen und verfolgt das Ziel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte im Freistaat. Dafür betätigt sich der Verein u.a. in den Bereichen politische Bildung, Antirassismusarbeit und mit Antidiskriminierungsberatung.

Mit Blick auf die von Sara und Samer beschriebenen Hürden erklärte Elisa: „Wir haben dieses Wissen beim Thema Vereinsgründung.“ Die Stärkung vorhandener MOs über Fortbildungen und die Unterstützung bei der Gründung sei einer ihrer Arbeitsschwerpunkte.

In ländlichen Regionen ist die Vernetzung vor Ort oft noch nicht gegeben

Das Engagement von Menschen mit Migrationsgeschichte im ländlichen Raum sei in Kleinstädten und dörflichen Strukturen in Ostdeutschland deutlich herausfordernder als in den Ballungszentren, wo viele Strukturen schon aufgebaut sind. Dabei sei Ostdeutschland mit Ausnahme Berlins zu weiten Teilen von ländlichem Raum geprägt. In ländlichen Regionen sei die Vernetzung von migrantischen Menschen vor Ort oft noch nicht gegeben. Auch fehle es an ganz grundlegenden Ressourcen, z.B. Räumen, um sich regelmäßig zu treffen. Gleichzeitig fehle es an vielen Orten auch bei den Eingesessenen am Willen, sich zu öffnen. Die Menschen, die sich wie Samer und Sara entschieden, aktiv zu werden, haben oft nur wenige zeitliche und finanzielle Ressourcen. Auch die Fördermittellandschaft sei zu komplex.

In Break-out-Sessions hatten die Teilnehmenden anschließend die Möglichkeit, Rückfragen an die Impulsgeber*innen zu stellen und sich auszutauschen.

Hier wurden einige ganz praktische Ideen und Lösungsvorschläge gesammelt, wie Herausforderungen besser gemeistert werden können und was in konkreten Situationen helfen könnte:

  • Thematische Messenger-Gruppen innerhalb einer Stadt/Region zur Vernetzung, für gegenseitigen Support und Tipps, ergänzt durch ein offenes digitales Dokument, wo sich Personen der Community vorstellen und vernetzen können
  • Integreat-App der Landkreise mit Informationen in mehreren Sprachen
  • Einblick ins Vereinsregister wäre nützlich, um zu sehen, welche Vereine sich kürzlich gegründet haben und in den direkten Erfahrungsaustausch zu gehen
  • Fortbildungen durch die neuen deutschen medienmacher*innen im Bereich Pressearbeit und Social Media
  • Hilfreich wäre eine geteilte „Bibliothek“ an Sharepics und Social Media-Layouts, da die Zeit fehlt, um die Kanäle professionell zu pflegen
  • Vorlagen für Beschwerdetexte für Behörden
  • Regelmäßiger Austausch und Vernetzung über den Dachverband der Migrant*innen-Organisationen in Ostdeutschland DaMOst e.V.
  • Gleichstellungsbeauftragte der Landkreise mit ins Boot holen

 

Text: Sophie Leins
Grafiken: Lena Friedrich via Canva