Vorlage für die Zukunft oder Sonderfall? – Transferwerkstatt „Aus 2015 lernen“

14. Juli 2022

Bei der Transferwerkstatt „Aus 2015 lernen – Engagementfördernde Strukturen stärken“ diskutierten mehr als 30 Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis über Erkenntnisse zum Engagement von und für Geflüchtete. Die Teilnehmenden tauschten sich dazu aus, inwiefern Erfahrungen der letzten Jahre und neue Wissensstände auf die aktuelle Situation der Geflüchteten aus der Ukraine übertragen werden können.

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Olaf Ebert und Moderatorin Romy Höhne

Olaf Ebert, geschäftsführender Vorstand der Stiftung Bürger für Bürger begrüßte eingangs die Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis in Halle und lud sie zum Wissens- und Erfahrungstransfer ein.

„Wir sind sehr daran interessiert, die gesammelten praktischen Erfahrungen in unsere Arbeit einfließen zu lassen, um so unsere Unterstützungsangebote immer wieder auf die tatsächlichen Bedarfe anzupassen.“ so Jan Holze, Vorstand der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) in seiner Begrüßung. Die DSEE war Mitveranstalterin der Transferwerkstatt, die am 6. Juli im saltLabs in Halle (Saale) stattfand. Parallel zur Veranstaltung stellte sie an diesem Tag ihr neues Förderprogramm zur Ukrainehilfe online vor.

Den Auftakt der Veranstaltung machten zwei Wissenschaftler mit Impulsen zum aktuellen Forschungsstand.

 

„Die Zeit nach 2015 war aus Sicht der Integrationspolitik erfolgreich.“

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Prof. Dr. Roland Roth

Prof. Dr. Roland Roth von der Hochschule Magdeburg-Stendal stellte die Lehren aus der Fluchtmigration nach 2015 in zehn Thesen vor. So sei es zu einer Kommunalisierung der Migrationsperspektive gekommen. Kommunen sind weltweit zu wichtigen Orten von Migration und Integration geworden. Dieser „local turn“ hin zu einer strategisch orientierten lokalen Integrationspolitik sei ein wesentliches Ergebnis der letzten Jahre. Auch das Engagement von und mit den Geflüchteten selbst, das Teilhabe ermögliche, sei eine Entwicklung, die 2015 noch kaum in der Praxis Einzug gehalten habe.

Roth zeigte auf, dass in den letzten sieben Jahren kooperierende Netzwerke von Freiwilligen und interkulturell kompetente Einrichtungen entstanden seien. Trotzdem gebe es natürlich noch viele Herausforderungen und offene Baustellen.

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Vortrag zu den Lessons Learned aus 2015

Ob die Erfahrungen aus 2015 auf die aktuelle Situation übertragbar seien, sah er skeptisch. Die Situation der Geflüchteten aus der Ukraine sei durch die erstmalige Nutzung der Massenzustrom-Richtlinie der EU und flankierenden nationalstaatlichen Regelungen ganz anders. Er ließ die Frage offen, ob wir damit einen grundlegenden „Spurwechsel“ hin zu einer progressiven Migrations- und Flüchtlingspolitik erleben oder ob es sich eher um einen Sonderfall handele.

Den schriftlichen Vortrag von Prof. Dr. Roth finden Sie hier.

Einen Mitschnitt des Vortrags können Sie hier nachschauen.

„Es braucht gesamtgesellschaftliche Veränderungen.“

Der zweite wissenschaftliche Impuls kam von Dr. Nikolai Huke von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der in seinem Vortrag über Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland auf Hürden und Enttäuschungen im Engagement für Geflüchtete einging.

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Dr. Nikolai Huke

Anders als Roth war er weniger optimistisch. „Engagierte treffen im Engagement auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse.“ Diese ließen sich nicht so leicht aufheben. So erschwerten zum Beispiel räumliche Isolation und Exklusion das Engagement für Geflüchtete. Professionelle Unterstützungsstrukturen seien zudem unterfinanziert und das Ehrenamt ersetze an vielen Stellen staatliche Strukturen. Auch Projektfinanzierungen beeinträchtigen ein langfristiges Engagement. Aber auch die emotionale Belastung und die Bedrohungslage für Helfende und Geflüchtete durch Rechtsextremismus behindere das Engagement in der Geflüchtetenhilfe und habe dazu geführt, dass viele, die 2015 noch engagiert waren, nicht mehr in diesem Bereich aktiv sind. Hukes Fazit lautet: „Es reicht nicht, Engagierte zu stärken. Es braucht gesamtgesellschaftliche Veränderungen.“

Die Präsentation von Dr. Nikolai Huke finden Sie hier.

Einen Mitschnitt des Vortrags können Sie hier nachschauen.

Nach dieser kritischen Einschätzung bat Jan Holze (DSEE) die Teilnehmenden um ihre Meinung, an welchen Stellen der Staat seit 2015 denn gelernt habe. Einige Teilnehmende schätzten viele der aktuellen politischen Maßnahmen als sehr positiv ein: Es wurden offene Grenzen für die Zu- und Rückwanderung geschaffen, bürokratische Regulierungen wurden zum Beispiel im Bereich Arbeitsmarkt zurückgenommen und die Neuankommenden müssten nicht in Unterkünften untergebracht werden. Die Formen der Solidarität, die jetzt wirkten, etwa die private Unterbringung, seien zuvor gar nicht möglich gewesen.

In der anschließenden Fishbowl-Diskussion wurden die Punkte vertieft und weitere spannende Erfahrungen sowie Erkenntnisse geteilt. Es diskutierten:

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Fishbowl-Diskussion

  • Arian Darat, Iranische Gemeinde in Deutschland e.V.
  • Judith Höffkes, Über den Tellerrand e. V.
  • Alexa Lenz, Universität Konstanz
  • Markus Priesterath, Bundesministerium des Inneren und für Heimat
  • Irina Sambale, Koordinierungsstelle Engagement Ukraine, LAMSA e.V.
  • Lorenz Wiese, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

Zweiklassensystem für Geflüchtete vermeiden

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Dr. Lorenz Wiese

Im Vergleich zum früheren Engagement in der Geflüchtetenhilfe könnten sich Ehrenamtliche, die derzeit Ukrainer*innen unterstützen, tendenziell eher auf das Zwischenmenschliche konzentrieren, so Dr. Lorenz Wiese. Dank der Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie kam es 2022 nicht zu einer Infrastruktur-Krise, die teilweise dem Nadelöhr der beim BAMF anhängigen Asylverfahren geschuldet war, und welche jahrelang viel Zeit und Energie der Ehrenamtlichen gebunden habe.

 

Markus Priesterath wies auf die Alliance4Ukraine als großen Fortschritt im Vergleich zur Situation 2015 hin. So einen runden Tisch, an dem sich Vertreter*innen der öffentlichen Hand und zivilgesellschaftliche Akteure als gleichberechtigte Partner treffen, habe es vorher nicht gegeben. Gerne habe Bundesinnenministerin Nancy Faeser hierfür die Schirmherrschaft übernommen.

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Alexa Lenz

Wissenschaftlerin Alexa Lenz verwies darauf, dass das lokale Krisenmanagement sowohl damals wie heute die Situation ohne zivilgesellschaftliches Engagement nicht hätte stemmen können. Eine Lehre aus 2015 sei, dass Krisensituationen in lokalen Verwaltungen bei wenig Ressourcen und Personal Flexibilität und Pragmatismus erforderten. Bei der Formalisierung von Kooperationsstrukturen seien leider Chancen vertan worden, weil Netzwerke und Strukturen von 2015 in den folgenden Jahren zum Teil zurückgebaut worden seien.

Irina Sambale berichtete direkt aus der Arbeit mit ukrainischen Geflüchteten. Oft habe sie mit Ehrenamtlichen zu tun, die von der Situation der privaten Unterbringung von teils traumatisierten Menschen belastet seien. Besondere Herausforderungen seien zudem die Eingliederung von jungen Menschen zwischen 15 und 17 Jahren, die durch die Raster des deutschen Bildungssystems fielen, sowie von Menschen mit Behinderung.

Arian Darat, der die postmigrantische Jugendinitiative Ayande in der Iranischen Gemeinde Deutschlands mitgegründet hat, verwies darauf, dass es häufig Menschen mit eigener Migrationsgeschichte seien, die sich für Geflüchtete engagierten. Teilweise würden dabei alte Traumata wieder aufgerissen. Es fehle nach wie vor an psychologischer Begleitung für Geflüchtete und Ehrenamtliche.

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Judith Höffkes

Judith Höffkes konstatierte, dass sich zivilgesellschaftliche Institutionen in der Geflüchtetenhilfe in den letzten Jahren enorm professionalisiert haben. „Wir, die Vereine, sind besser geworden. Wir können viel schneller reagieren.“ Die Veränderungen beim Geflüchtetenstatus für ukrainische Geflüchtete könne sie aber nur dann positiv bewerten, wenn er eine Änderung für alle Geflüchteten mit sich brächte. Ansonsten entstünde ein rassistisch konnotiertes Zweiklassensystems, das europäische vor afrikanischen und asiatischen Geflüchteten bevorzuge.

Ehrenamt muss sich auch selbst hinterfragen

In der Diskussion wurde betont, dass eine rassismus-kritische Perspektive auch im Ehrenamt notwendig sei. Eigene Privilegien müssten hinterfragt und Strukturen und Verhältnisse thematisiert werden. Das Engagement der Geflüchteten selbst müsse mehr in den Blick genommen werden und Engagement mit Geflüchteten auf Augenhöhe stattfinden.

Im dritten Teil der Veranstaltung folgte die Diskussion an drei Thementischen zu den Themen Politik der Vielfalt, Teilhabe durch Engagement von Geflüchteten und Kooperation von Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Die Ergebnisse der Transferwerkstatt werden voraussichtlich im August 2022 in einem Empfehlungspapier veröffentlicht.

Text: Sophie Leins

Fotos: Laurin Schmid / bundesfoto